Im Hohen Dom zu Trier: Fastenpredigt zur 3. Station

Fastenpredigt im Hohen Dom zu Trier zur 3. Station "Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz" aus dem Zyklus "Die gegenwärtige Passion" von Monika Stein (2015/16)

Die 3. Station im Kreuzweg von Monika Stein

"Nachdem sie ihren Spott mit ihm getrieben hatten, nahmen sie ihm den Purpurmantel ab und zogen ihm seine eigenen Kleider wieder an. Dann führten sie Jesus hinaus, um ihn zu kreuzigen." So berichtet der Evangelist Markus (Mk 15, 20) Jesus trägt sein Kreuz. Und es dauert nicht lange, da verlassen ihn die Kräfte.

Wenn wir diese Figur hier betrachten, sind wir mitten drin im Geschehen, liebe Schwestern und Brüder! Jesus fällt zum ersten Mal unterm Kreuz. Leidender Gesichtsausdruck, Dornenkrone. Mit seinen auffällig großen Händen sucht er Halt oder will den Sturz zumindest abmildern. Soweit nichts Besonderes: eine der seit 1731 kanonischen 14 Kreuzwegstationen.

Von weitem sieht man eine ziemlich eindeutige Silhouette, eine gebeugte Figur mit dem Kreuz über der Schulter. Kommt man jedoch näher, stellt man erstaunt fest, dass das Kreuz (das einem vielleicht aus der Ferne etwas schmal vorgekommen sein mag) eigentlich gar kein Kreuz ist. Denn die bayerische Künstlerin Monika Stein hat sich bei der Gestaltung dieser Station die Freiheit genommen, das Kreuz zu ersetzen. Mit der aus Beton modellierten Gestalt wurde anstelle des Kreuzes ein Gegenstand aus der Alltagswelt verbunden: eine Gartenschere.

Formal ist diese gut eingebunden; und doch werden hier zwei nicht vereinbare Wirklichkeitsbereiche miteinander konfrontiert. Die ehemals praktische Funktion ist offenkundig und zugleich aufgehoben. Durch die Verbindung mit der Figur kommt dem Ding eine neue, eine andere Bedeutung zu: Die Schere wird zum Symbol. Liest man „Hartz IV“, wird die Aussage klar. Es geht um die Schere zwischen Arm und Reich.

Der Kreuzweg ist nicht mehr nur eine Nacherzählung der Passion Jesu oder im Vollzug ein betendes Mitgehen mit Jesus. Diese Art der Gestaltung der Figuren lässt uns erleben, dass es um mehr geht. Denn hier steht uns kein konkreter Mensch vor Augen. Eigentlich sind es nur grob menschenähnliche Annäherungen an die Person Jesu. Die Einmaligkeit des Ereignisses wird verallgemeinert. So können sich alle mit dem Leiden identifizieren. Hinzu kommt: Die Frage nach dem Leid wird durch die Künstlerin aktualisiert und ganz konkret auf unsere Zeit und die Probleme und Leiden unserer Zeit bezogen. Deshalb nennt sie den Zyklus auch „Die gegenwärtige Passion“.

Problemanzeige

Wenn ich hier diese Hartz-IV-Schere sehe, muss ich an ein Treffen im Rahmen der Firmvorbereitung denken, bei dem ich letztes Jahr dabei sein durfte. Da ging es um Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Jugendlichen sollten sich Gedanken über die Vermögensverteilung in Deutschland machen. Dann hatten sie die Aufgabe, 100 Plastikbecher auf einer Skala von 1 bis 10 verteilen. Alle Becher zusammen stellten das gesamte Vermögen in Deutschland dar. Jeder Becher stand für 1% des Vermögens. Wie aber sind die Becher zu verteilen, wenn sie die Verteilung der Vermögen in Deutschland abbilden sollen?

Instinktiv verteilten die Jugendlichen die Becher so, dass viele am oberen Ende der Skala landeten, nach unten hin wurden es immer weniger. Um eine verlässliche Aussage machen zu können, wurde eine Studie der Bundesbank hinzugezogen, die letztes Jahr veröffentlicht wurde. Sie zeigt zwar, dass Fastenpredigt im Hohen Dom zu Trier am 08. März 2020 Seite 2 das Vermögen der Deutschen auf breiter Basis gestiegen ist und einen neuen Rekord erreicht hat. Das ist grundsätzlich erfreulich. Allerdings zeigt die Studie auch: Die Ungleichheit der Vermögen ist äußerst hoch. Die reichsten zehn Prozent besitzen demnach mehr als die Hälfte des gesamten Vermögens. Entsprechend wurde der Vorschlag der Jugendlichen korrigiert. 56 Becher landeten im obersten Feld.

In der unteren Hälfte durften gerade mal drei Becher bleiben. Denn die ärmere Hälfte der Bundesbürger besitzt gerade mal drei Prozent des gesamten Vermögens in Deutschland. Und die Haushalte mit dem geringsten Wohlstand haben sogar mehr Schulden als Guthaben. Das betrifft etwa fünf Prozent. Und man kommt nicht umhin festzustellen: Im Vergleich zu früheren Jahren ist die Kluft bei den Vermögen gestiegen. Die Schere geht weiter auseinander.

biblische Perspektiven

Das ist kein neues Thema, wenn man an die Lesung aus dem Propheten Amos (Amos 8, 4-7) denkt. Die Sozialkritik bei Amos hätte deutlicher kaum ausfallen können. Er beschönigt nichts: Arme wurden verfolgt, Gebeugte unterdrückt. Maße und Gewichte wurden nach Gutdünken verändert, Waagen manipuliert. Hätte statt Monika Stein der Prophet eine solche Skulptur gestaltet, würde statt “Hartz IV” wahrscheinlich “Betrug” auf der Schere stehen. Aber die Idee der Künstlerin hätte auch damals gepasst.

Auch Jesus, der im Mittelpunkt der Betrachtungen des Kreuzweges steht, hat mit solcher Kritik nicht gespart. Er würde sicherlich heute auch den Finger in die Wunde legen und Missstände klar benennen. Ihm ging es aber nicht nur darum, die Dinge auszusprechen. Ihm ging es darum, dass alle Menschen Leben in Fülle haben. Das heißt aber nichts weniger als: Ihm ging es darum, die Welt zu verändern.

Lösungsansätze

Ein großes Unterfangen, keine leichte Aufgabe! Und als Einzelne können wir da nicht viel ausrichten. Es ist ein Thema, für das in der Politik Lösungen zu suchen sind. Solche Lösungen können nicht nur in individueller Hilfe bestehen – so wichtig und gut die Hilfeleistung im Einzelfall sein mag. Eine wirkliche Lösung der Problematik muss auch strukturell verankert sein, damit es nicht auf das Wohlwollen, den guten Willen einzelner ankommt.

Es geht darum, die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und das Steuersystem gerecht zu gestalten. Dass auf der einen Seite der Wert der Arbeit anerkannt wird. Dass sich Arbeit auch lohnt und auch Menschen mit geringer Qualifikation mit einer vollen Stelle die Chance haben, ein Einkommen zu erzielen, von dem sie auch leben können ohne auf zusätzliche Leistungen des Staates angewiesen zu sein.

Dazu gehört aber auf der andere Seite, dass die Reichen sich nicht aus der Affäre ziehen, also mit Tricks versuchen, Steuern zu vermeiden. Spätestens an dem Punkt wird klar, dass es in einer globalisierten Welt auch internationaler Lösungen bedarf. Oft sind es ja legale Konstrukte, die andere Staaten durch ihre Steuerpolitik ermöglichen.

Nur um es klarzustellen: Mir geht es hier nicht um Neid gegenüber den Reichen. Viele haben ihr Geld ehrlich verdient, hatten gute Ideen, die sie gewinnbringend vermarkten konnten, hatten ein geschicktes Händchen bei Investitionen oder bei der Führung eines Unternehmens. Ich weiß auch, dass es sehr unterschiedliche Definitionen von Reichtum gibt und dass große Teile von Vermögen gebunden sind. Ich will niemandem das Vermögen streitig machen.

Mir geht es um eine gerechtere Besteuerung der Gewinne, die mit diesen Vermögen erwirtschaftet werden. Wenn die besonders Reichen und die großen Konzerne ohne Wenn und Aber einfach (ihre) Steuern zahlen würden, hätten sie nicht viel verloren. Es bliebe für die Superreichen immer noch mehr Fastenpredigt im Hohen Dom zu Trier am 08. März 2020 Seite 3 als genug zum Leben bzw. der größte Teil der Gewinne für die Unternehmen übrig – und für die Allgemeinheit, insbesondere für die Ärmeren, wäre viel gewonnen.

Compassio

Allerdings: Nur weil wir als Einzelne oder als Kirche nicht viel auszurichten vermögen (außer vielleicht solche Punkte immer wieder anzusprechen), nur weil wir keine Entscheidungsbefugnisse haben, können wir uns nicht einfach zurücklehnen und abwarten, was die Politiker aus der Situation machen. Diakonia, tätige Nächstenliebe, ist uns Christen als Grundvollzug von Kirche ins Stammbuch geschrieben. Darauf hat auch die Trierer Bistumssynode deutlich hingewiesen. Bischof Stephan hat in seinem Hirtenbrief zum Beginn dieser Fastenzeit angeregt, dass wir uns im gesamten Bistum jetzt verstärkt mit dieser Frage beschäftigen, und er hat einige Impulse gegeben, wie dies gelingen kann.

Die Künstlerin Monika Stein regt uns mit ihrem Kreuzweg an, den gegenwärtigen Kreuzen in unserem Leben und in unserer Gesellschaft nachzuspüren. Die Figuren sind nicht unbedingt schön im klassischen Sinne. Sie haben “Ecken und Kanten”. Sie haben eine rostige Oberfläche. Aber es braucht Reibungsfläche, damit ich verweile und nachdenke. Sonst denke ich schnell: “Ich habe die dargestellte Situation mit einem Blick erfasst und weiß, worum es geht.” Dann hake die Station schnell ab und gehe weiter zur nächsten.

Dieser Kreuzweg lädt vielmehr dazu ein, genauer hinzuschauen und weiter zu denken. Ihnen werden wahrscheinlich noch viele andere Gedanken kommen. Vielleicht kommen Sie ja sogar mit anderen ins Gespräch darüber. Und im Idealfall regt Sie die Begegnung mit den Skulpturen von Monika Stein an, nach Ihren Möglichkeiten zu handeln. Jeder kann in seinem kleinen Umfeld aktiv werden, mit anderen vielleicht auf regionaler Ebene und in der Politik, wenn es um das Grundsätzliche geht.

So wird aus der Betrachtung dieses Kreuzwegs echte compassio, wahrhaftiges “Mit-Leiden”: Mit- Leiden mit Jesus und mit den Leidenden unserer Tage. Mit-Leiden, das nicht folgenlos bleibt.

Jugendpfarrer Martin Laskewicz, Koblenz