Bericht im Kunstmagazin ARTPROFIL

Wie sehr in Bayern die Traditionen bildhauerischer Figurationen noch lebendig sind und immer wieder neue künstlerische Aktualisierungen erfahren, war höchst eindrucksvoll mit der Installation eines 14-teiligen Kreuzweges aus Betonfiguren im Kirchenschiff der Stadtpfarrkirche in Rosenheim zu erleben.

Kreuzweg Rosenheim Bis nach Ostern konnte die in München geborene und südlich des Chiemsees in Unterwössen arbeitende und lebende Bildhauerin und Malerin Monika Stein ihre Skulpturen präsentieren. So ungewöhnlich diese extrem expressiv wirkende Ausstellung den kirchlichen Rahmen sowohl füllte als auch sprengte, so ungewöhnlich waren auch bislang die Auftritte ihrer Kunst in der Region. etwa in einem Sägewerk in der Nähe ihres Ateliers, und demnächst, ab Anfang Mai, im Museum Maxhütte in Bergen bei Traunstein, einem industriehistorischen Juwel im Chiemgau, in dem die Geschichte des Königlichen Hüttenwerkes in der weitläufigen und hohen Halle des Museums aufbereitet ist und regelmäßig interessanten Künstler im Einzugsbereich bis München ein Ausstellungsforum geboten wird. Zusammen mit der Traunsteiner Malerin Hildegard Fakler, der Art Profil bereits ein Porträt gewidmet hat (vgl. … ), stellt sie sich der Herausforderung, der elegant geschwungenen Eisenkonstruktion des Raumes mit der Platzierung der Kunstwerke ihre Ausdrucksformen in situ entgegen zu stellen.

Denen, die die zweimonatige Rosenheimer Kreuzweg-Installation nicht gesehen haben und die nicht auf die zukünftigen geplanten Präsentationen in der Benediktiner Abtei Maria Laach in der Eifel und im Dom zu Trier warten wollen, gibt die Künstlerin einen Katalog zur Hand, der unter dem Titel „Die gegenwärtige Passion“ über die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig und Frankfurt zu beziehen ist. Eine solche Publikation bekommt dadurch eine Bedeutung, dass die Beispiele für gelungene künstlerische Gestaltung im figurativen Bereich in der religiösen Kunst selten zu finden sind. Monika Stein schlägt mit der plastischen Wucht des Ausdrucks in ihren Kreuzweg-Figuren eine Brücke zum massiven Impetus der Skulpturen von Auguste Rodin zu Beginn des 20. Jahrhunderts, geschaffen in Gips und in Bronze – etwa dem Balzac Denkmal oder der Einzelplastik einer Hand in grotesker Krümmung der Finger sowie zu den vergeistigten wie verinnerlichten Körpergestaltungen von Wilhelm Lehmbruck wenige Jahre nach Rodin, bis zu den kühn ausgreifenden, in dynamischem Stillstand erstarrten Skulpturen von Giacomo Manzù und Mario Marini in den 1950er Jahren. Der Betrachter bzw. der Besucher der Kreuzweg-Plastiken von Monika Stein vollzieht die in Beton hergestellten Verdichtungen der emotionalen Ausstrahlungen von Passion in diesem zu Kunst umgeformten Leidensweg Christi als einen in den Traditionen bester Bildhauerei verankerten Parcours mit, erkennt aber gleichzeitig die eigene und unverwechselbare Handschrift der Bildhauerin in der Art ihrer Materialbehandlung und der eindrucksvoll unkonventionellen Formung der Figuren und Gesichtszüge – zuweilen geradezu bäuerlich grob, wie sie in den Steinplastiken der Kalvarienberge vor den Kirchen in der Bretagne zu finden sind.

Die Künstlerin erreicht, was als das maximale Ziel figurativer Bildhauerei seit Ovids Pygmalion-Mythos gilt: der toten Materie der Skulpturen in ihrer Darstellung Leben einzuhauchen, damit also Emotionalität zu verdinglichen, in diesem Fall für die Passion eines Leidenden empathisches Verständnis beim Betrachter zu erzeugen. Die Künstlerin geht aber weiter: sie öffnet mit dem Einbeziehen heutiger drängender Katastrophen-, Schmerz- und Unrechtserfahrungen von uns allen eine neue Deutung des Kreuzweges. Sie tut das indem sie auf drastische Weise den traditionellen plastischen Formenkanon mit realen, aufgefundenen Gegenständen aus der Alltagswelt von heute konfrontiert: eine mächtige Gartenschere, auf deren Klinge die Inschrift „Hartz IV“ eingraviert ist, fixiert an der Gestalt des unter dem Kreuz zum ersten Mal stürzenden Jesus, des weiteren – aus der jüngeren Vergangenheit – einen Stahlhelm, den der (gemäß des Evangeliums) zwangsverpflichtete Kreuzesträger Simon von Kyrene im Begriff ist auf das Haupt Jesu zu legen, oder eine verrostete Auspuff-Anlage, mit der zusammen Jesus zum zweiten Male fällt. Solche Partikel der Realwelt in die Bildsprache der Skulpturen integriert zu haben, wäre noch vor nicht allzu langer Zeit als skandalös empfunden worden. Der zeitgenössische Betrachter würde jedoch eher nicht an der Provokation der Bildermischung Anstoß nehmen, sondern an der Überdeutlichkeit der Symbolsprache als Hinweise auf die Gleichgewichtsstörung zwischen Arm und Reich ( „Hartz IV“), auf die Kriegszerstörungen (Stahlhelm) und auf die Umweltzerstörung (Auspuffrohr), die da der Heiland als seine Bürden auf sich genommen hat – wenn nicht die großartige Gestaltungskraft dem Symbolgehalt einen gesamthaften Sinn verleihen und so überzeugen würde. Nicht so offensichtlich für alle, die die geheimnisvolle Himmelsscheibe von Nebra und ihre astronomisch-religiöse Bedeutung nicht kennen, die vor 4000 Jahren sich wohl leichter verständlich machen konnte, ist die abbildende Platzierung dieser Ikone der Menschheitsgeschichte im Schnittpunkt des Kreuzes als eine Metapher für die transzendierende Grablegung des Leichnams Jesu. In dieser Weise den Bogen zu spannen von der christlichen Symbolik zur kosmischen Symbolik ist gewagt, doch zweifellos bildhauerisch eingängiger bewältigt als es Sprache in solcher Kürze je vermocht hätte. Gewagt ist auch für jeden ernst zu nehmenden Bildhauer das Aufgreifen des bekanntesten Motivs der christlichen Ikonographie, die Beweinung Christi auf dem Schoß von Maria, die Pietà. Der für Jahrhunderte maßgebenden Bildkraft der Marmorstatue von Michelangelo im Petersdom von Rom (nur Käthe Kollwitz hat noch eine im entfernten vergleichbare Pietà geschaffen, die in der Gedenkstätte für die Opfer des Krieges in der Neuen Wache Berlin Raum gefunden hat) steht in der Gestaltung von Monika Stein ihre ganz andere Bilderfindung gegenüber: Die expressiv auseinanderstrebenden Figuren, horizontal von Christus und vertikal von Maria, bilden eine so starke aufeinander bezogene Einheit, das sich dieses paradoxe Auseinander als Zueinander dem Bildgedächtnis des Betrachters einschreiben dürfte.

Es ist zu hoffen, dass dieses überragende plastische Kunstwerk von Monika Stein und die gesamte Kreuzweg-Skulpturengruppe in ihrer originellen bildhauerischen Qualität durch die geplanten weiteren Aufstellungen erkannt werden. Zwar widmen sich zunehmend mehr die großen Maler und Bildhauer unserer Zeit religiösen und kirchlichen Kontexten zu – Gerhard Richters Fenster im Dom von Köln und Neo Rauchs Kirchenfenster für den Naumburger Dom, beide 2007, sind solche Beispiele. Doch das Wagnis der Passion, wie es die expressionistischen Maler und Bildhauer zwischen den beiden Weltkriegen eingingen, hat keine wirkliche Fortsetzung auf deren künstlerischem Niveau gefunden. Daher sind die Kreuzweg-Figurationen von Monika Stein als im heutigen Kunstgeschehen so ungewöhnlich einzustufen.

Elmar Zorn